Wenn du den Untermarkt in Görlitz betrittst, öffnet sich ein Raum, der mehr ist als ein Platz. Er ist Bühne, Archiv und Begegnungsstätte zugleich. Die alten Hallenhäuser ragen mit ihren Renaissancefassaden und stützenden Laubengängen wie stille Erzähler in den Himmel. In ihnen liegen Geschichten von Kaufleuten, von Zeiten des Aufstiegs und des Wandels – sichtbar in jedem geschnittenen Giebel, jedem Bossenstein.
Ganz in der Mitte thront das Alte Rathaus mit seiner geschwungenen Renaissance-Treppe und der Justitia in Stein gemeißelt – ein Symbol bürgerlicher Macht, das sich stolz über dem Platz erhebt. Sein Turm hebt sich gegen den Himmel, mit Mondphasenuhr und einem steinernen Löwenkopf, der einmal im Viertelstundentakt brüllen kann, als ob er die Stadt an die Vergangenheit mahnt.
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Nicht weit davon entfernt, tritt man unversehens in ein akustisches Geheimnis: den Flüsterbogen. Ein spätgotisches Portal, behangen mit Kreuzblumen und Maskenkonsolen, wirkt bei Tageslicht wie Makramee aus Sandstein. Doch sein Wunder offenbart sich nur dem, der leise flüstert: Die Worte, kaum hörbar über den Kräuselungen des Bogens, werden am anderen Ende klar vernehmbar. Es ist ein Spiel mit Schall und Schatten, mit Neugier und Vertrauen – ein faszinierender Dialog durch Jahrhunderte.
Der Neptunbrunnen steht nicht nur als Brunnen, sondern als Mythos im Zentrum dieses Platzes. Neptun selbst thront über dem Wasser, gestützt von einem Fisch, der Wasser speit und es in ein skulpturales Kopfgefäß lenkt. Wasser rinnt in die Tiefe und spiegelt zugleich die Seele der Stadt. Die Görlitzer nennen ihn liebevoll „Gabeljürgen“, weil Neptuns Dreizack einst eher wie eine überdimensionale Gabel wirkte. Doch in seiner barocken Form, bestimmt von Johann Georg Mattausch, verbindet der Brunnen Kunst, Alltagsleben und den Gedanken an Ursprung und Wandel.
Die Häuser rund um den Platz – von der Ratsapotheke mit ihren Sonnenuhren über den Schönhof, dem ältesten Renaissancehaus nördlich der Alpen, bis zu dem Gasthof „Goldener Baum“ oder dem „Braunen Hirsch“ – bilden ein Ensemble, das Architekturgeschichte spiegelt wie ein Kaleidoskop. Die Fassaden wechseln Stil und Zeit, doch in ihrer Harmonie liegt der Zauber: ein Stillleben aus Stein und Licht, aus Vergangenheit und Gegenwart.
Am Untermarkt ist niemand Zuschauer. Man ist Teil. Wenn sich abends das Licht in den Fenstern bricht, hört man das Plätschern im Brunnen, spürt die Schwingung im Flüsterbogen und sieht die Uhrwerke gleiten. Dann wird klar: Hier ist die Zeit nicht flüchtig – sie verweilt. Und jene, die verweilen, tragen ein Gefühl heim, das tiefer ist als ein Foto, lebendiger als jede Geschichte. Denn am Untermarkt spricht die Stadt; in ihren Mauern atmet sie, in ihrem Flüstern lebt sie weiter.
