Wenn du über den gepflasterten Untermarkt in Görlitz schreitest und dein Blick die klaren Linien der Renaissancefassaden streift, bist du bereits unterwegs in die Aura eines Ortes, an dem Justiz, Macht und Himmel eine Bühne teilen. Mitten darin steht das Alte Rathaus, dessen turmhohe Erscheinung sich in den Horizont reckt wie ein stummer Wächter.
Die geschwungene Rathaustreppe – geschaffen von Meister Wendel Roskopf im frühen 16. Jahrhundert – windet sich in sanfter Eleganz an der Südseite des Turms hinauf. Ihre Steinreliefs erzählen von Adam und Eva, von Sirenen und tanzenden Putten, als wären sie Renaissancegeister, die am Ufer der Moderne verweilen. An der Seite der Treppe ruht eine Kanzel – und dort thront Justitia, nicht blind, sondern mit offenen Augen. Ein ungewohntes Zeichen für klare Urteilsfindung, das ausdrückt: Hier wird gesehen, hier wird gewogen mit ungetrübtem Blick.
Oben, am Rathausturm, beginnt das Spiel mit Zeit und Himmel. Zwei Uhren prangen übereinander. Die eine zeigt die Stunden des Tages in ihrem ewigen Kreisen. Die andere, eine astronomische Mondphasenuhr, lässt den Mond überbringen, Nacht um Nacht. Goldene Zeiger tanzen um kreisförmige Anzeigen, vom äußeren Ring mit 24 Stunden bis zum mittleren, der die Mondphasen offenbart. Ein innerer Ring sollte einst die Kalendertage zählen – doch die Zeit wandelte sich, und der Mechanismus blieb stumm. Doch das Spiel mit Zeit und Gestirn lebt weiter.
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Unterhalb der Zifferblätter blicken dich Augen an – jene stummen Zeugen einer Legende. Ein Wächterkopf, dessen Augen sich im Minutentakt öffnen, sein Mund sich formt, als hätte er den Brandverschlaf verpasst und dafür überdauert. Die Augen leuchten orange wie Glut, der Mund stumm doch zugleich Ausdruck ewiger Mahnung. Und über allem: Ein goldener Löwe sitzt im Spitzbogenfenster. Gerüchte sagen, er habe einst bei Neumond gebrüllt, ein Donnerschlag aus Orgelwerk, erschaffen, um Diebe abzuschrecken und Aufmerksamkeit zu erregen. Heute ruft er nur noch auf Anforderung – und doch fühlt man die Kraft, mit der er einst die Stadt schützte.
Wer den Turm ersteigt, erklimmt nicht nur 191 Stufen. Er betritt ein Relikt der Zeit, geführt durch Stimmen der Geschichte – vom Nachtwächter über das Prangergericht bis zum brüllenden Löwen. Und dann: die Aussicht. Aus circa 60 Meter Höhe öffnet sich ein Panorama über die Dachlandschaft und Terrakottatöne der Altstadt, über schmale Gassen und imposante Bürgerhäuser. In klarer Fernsicht winken das Riesengebirge oder die Lausitzer Berge, verbunden durch Horizonte, die weit tragen.
Im Inneren ist die Verteilung der Räume ein Kaleidoskop: die Königstube, der historische Trausaal, einst Gerichtszimmer, jetzt Bühne für Liebende. Jeder Raum lädt zum Verweilen ein, zum Lauschen, zum Spüren: Hier lebte Macht. Hier wurde gerichtet. Hier ward gehofft.
Und obwohl das Rathaus Ensemble verschiedener Epochen ist – gotisch, Renaissance, Neorenaissance – ergibt es ein harmonisches Ganzes. Die Fassaden atmen miteinander, erzählen von Aufstieg, Macht und Gemeinschaft; erzählen von einem Stadtbund, dessen Wappen im neorenaissancistischen Neubau thronen – ein kollektives Denkmal der Oberlausitzer Sechsstädte.
Wenn du wieder ins Licht des Untermarkts trittst, spürst du, dass du nicht nur ein Haus besucht hast. Du hast einen Ort betreten, an dem Zeit zu Figuren wurde – in Uhrwerken, in Stein, im Brüllen eines Löwen, im Blick einer Justitia mit offenen Augen. Ein Ort, der festhält, was fliehen könnte: Gerechtigkeit und Erinnerung, Licht und Schatten, Staunen und Stille. Ein Ort mit Haltung. Ein Ort mit Herz.
