Manchmal, wenn die Abendsonne ihre letzten Strahlen über Görlitz wirft und die altehrwürdige Peterskirche in ein warmes Licht taucht, scheint es, als ob sich ein Schatten noch tiefer in die steinernen Winkel des Gemäuers gräbt. Hoch oben an der Ostseite, direkt unter dem schützenden Dach und über dem altehrwürdigen Portal der Georgenkapelle, kauert eine Figur, in Stein gemeißelt, doch von einer Lebendigkeit, die Schauer über den Rücken jagt. Es ist die Gestalt eines Mannes, dessen Gesichtszüge von panischer Angst verzerrt sind, die Beine in einer vergeblichen Bewegung verschränkt, die Hände schützend über dem Haupt verschlagen. Und wer genau hinsieht, mag den Schrecken in seinen Augen widerhallen sehen, der seit Jahrhunderten dort oben gefangen zu sein scheint.
Die bekannteste Geschichte, die sich um diesen steinernen Zeugen rankt, ist die einer Tragödie, die sich vor langer Zeit ereignet haben soll. Sie erzählt von einem Zimmermann – oder war es ein kühner Dachdecker? – der einst am Bau der majestätischen Peterskirche schaffte. Tag für Tag trotzte er den Höhen, balancierte auf schmalen Balken und fügte Stein an Stein, bis ihn eines unheilvollen Tages das Schicksal ereilte. Ein Fehltritt, ein plötzlicher Windstoß, oder vielleicht einfach nur die unerbittliche Schwerkraft – niemand weiß es genau. Er stürzte. Doch in seiner Verzweiflung, im Angesicht des drohenden Todes, vollbrachte er eine letzte, verzweifelte Tat. Mit einem Aufschrei, der im Wind verhallte, rammte er seine Axt in einen Holzbalken, der sich ihm in den Weg stellte. Und dort, im Augenblick des Sturzes, blieb er hängen. Nicht tot, aber auch nicht gerettet. Nur gefangen zwischen Himmel und Erde, ein ewiger Mahnruf an alle, die ihren Blick nach oben richten. Bis heute soll er dort auf seine Erlösung warten, gefangen im kalten Stein, ein stummer Zeuge der Jahrhunderte, die über Görlitz hinweggezogen sind.
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Doch die Zeit spinnt ihre eigenen Fäden, und so gibt es noch eine andere, düstere Version dieser Legende, die sich mit einem realen Ereignis verbindet. Sie erzählt von Franz Hesse, einem unglückseligen Kupferdecker, der im Jahre 1776 tatsächlich vom Dach der Peterskirche in den Tod stürzte. War es sein letzter, verzweifelter Blick, der sich in den Stein brannte und so diese schauerliche Figur entstehen ließ? Oder ist die Steinerne nur eine Mahnung, eine Erinnerung an die Gefahren, die der Bau solcher Monumente birgt, und die Opfer, die sie manchmal forderten?
Ganz gleich, welche Geschichte man glauben mag, die steinerne Gestalt an der Peterskirche bleibt ein faszinierendes Geheimnis, das die Fantasie beflügelt und die Jahrhunderte alte Geschichte Görlitz‘ lebendig werden lässt. Sie ist ein ewiges Symbol für die Fragilität des Lebens und die unbezwingbare Macht der Zeit, die über allem thront. Wer das nächste Mal die Peterskirche besucht, möge seinen Blick gen Himmel richten – vielleicht fängt er einen Schimmer des alten Schreckens in den steinernen Augen des Wartenden ein.
